Man muß auch Gast sein können
Ein Derwisch war in einer stürmischen Winternacht in einer spärlich bewohnten Gegend auf der Suche nach einem Quartier. Er klopfte an die erste Tür, die sich ihm bot und fragte, ob er übernachten könne. Nein, alles bereits voll, war die Antwort. So ging er von Haus zu Haus. Als er im Ort an der letzten Türe anklopfte war, bekam er die Antwort: Nein hier nicht, aber wenn du noch dreihundert Meter der Strasse folgst, kommst du an ein abgelegenes Haus, das eigentlich nicht zu unserem Dorf gehört, und da wohnt Ibrahim. Bei dem kannst du übernachten. Aber sei gewarnt, denn der verprügelt seine Gäste.
Der Derwisch dankte für die Auskunft und macht sich auf den Weg zu dem besagte Haus. Er dachte bei sich: Oh Allah, ich bin müde und hungrig und eigentlich ein guter Mensch. Muß ich mich denn jetzt auch noch verprügeln lassen, um Gastfreundschaft zu erlangen…Er kam an die Tür von Ibrahim und sehr zögerlich klopfte er an.
Die Türe öffnete sich und vor ihm stand ein stattlicher Mann, der ihn sehr freundlich begrüßte. Komm rein, sagte er zum Derwisch und mach es dir bequem. Fühle dich wie Zuhause. Möchtest du ein Bad nehmen? Der Derwisch dachte bei sich: ein Bad, oh Allah, ja gerne. Er bekam frische Kleider und setzte sich nach dem Bad an eine reichlich gedeckte Tafel. Es schmeckte köstlich und der Derwisch fühlte sich behandelt wie ein hoher Herr. Zum Abschluß des Nachtmahls gab es noch den wunderbarsten Mokka, den er jemals getrunken hatte. Dann zeigte ihm Ibrahim sein Zimmer, Ein Bett frisch bezogen und nach Rosen duftend und der Derwisch hatte einen ungestörten, erfrischenden Schlaf mit großartigen Träumen.
Als er aufwachte, war der Frühstückstisch bereits gedeckt und es duftete nach Kaffee und frisch gebackenem Brot. Der Derwisch dachte bei sich: oh Allah, das dicke Ende kommt bestimmt noch, denn er war ja gewarnt. Ibrahim begrüßte ihn mit einem freundlichen Lachen und der Derwisch vergaß für einen Moment die Warnung, denn die Gegenwart seines Gastgebers war so natürlich und ungezwungen, dass sie gemeinsam scherzten, lachten und sich Geschichten erzählen, als wären sie alte Freunde.
Dann war die Stunde des Abschieds für den Derwisch gekommen und er dachte bei sich: oh Allah, jetzt verprügelt er mich. Aber Ibrahim griff in seine Tasche und gab dem Derwisch noch einen Beuttel mit Geld für seine Reise. Sie umarmten sich herzlich und der Derwisch rechnete in jedem Augenblick damit, dass die Schläge ihn treffen würden. Aber nichts dergleichen geschah.
Als er bereits eine zeitlang gegangen war, machte der Derwisch kehrt und ging zurück zum Haus seines Gastgebers. Ibrahim öffnete und dachte sein Gast hätte etwas vergessen. Der Derwisch sagte: Ibrahim, lieber Freund, im Dorf erzählt man über dich schreckliche Geschichten. Du seist ein schrecklicher Gastgeber, der seine Gäste immer verprügeln würde. Das stimmt aber doch gar nicht. Soll ich den Menschen im Dorf nicht mal erzählen, dass du ganz anders bist?…
Ibrahim sagte: Nein, denn es stimmt, was die Menschen im Dorf sagen. Ich verprügele sie, denn sie beleidigen mich. Wenn sie mich besuchen und ich biete ihnen meine Gastfreundschaft, sagen sie bei allem, was ich ihnen anbiete: Oh nein, vielen Dank. Mach dir keine Mühe und Umstände. Ich gehe sowieso gleich wieder. Sie kränken mich damit, denn sie können meine Freundlichkeit nicht annehmen.
Sie haben nicht gelernt, Gast zu sein. Zu geben, aber auch nehmen zu können und damit den Gastgeber zu ehren. Das ist die Kunst der Gastfreundschaft. Und weil sie das nicht können, deshalb verprügele ich sie.