Der Mörder meines Vaters: Gastfreundschaft ist stärker als Rache
 Ein Gouverneur fiel in Ungnade bei einem hartherzigen Kalifen und flüchtete in der Hoffnung, bei treuen Freunden in der Nachbarstadt Unterschlupf zu finden. Die Suchtrupps des Kalifen kamen jedoch immer näher, also floh er, blind vor Angst, in letzter Sekunde in das nächstbeste Haus. Der adlige Gastgeber nahm ihn auf, ohne ihn nach seiner Person oder dem Grund seiner Flucht zu fragen; vielmehr ließ er ihm in einem bequemen Versteck das allerbeste Essen servieren. Der Gast beruhigte sich und genoss die Großzügigkeit seines Gastgebers.
Bald merkte er, dass der Herr jeden Tag ausritt und erst am Abend erschöpft zurückkehrte. Er fragte nach dem Grund. „Ich suche den Mörder meines Vaters. Ich habe gehört, er sei auf der Flucht, nachdem er beim Kalifen in Ungnade gefallen ist. Er hat vor einem Jahr meinen Vater hinrichten lassen. Vielleicht habe ich Glück und erwische ihn, bevor die Suchtrupps ihn finden.“
Als der Gast das hörte, war er sicher, dass Gottes Hand ihn zu seinem Henker geführt hatte, denn er erkannte, dass er selbst der Gesuchte war, der als Gouverneur den Vater des edlen jungen Mannes hatte hinrichten lassen. Als er das aber dem Gastgeber eröffnete, wollte der kein Wort davon glauben: „Bin ich ein so schlechter Gastgeber, oder bist du deines Exils schon müde?“
Der Gast versicherte, er würde natürlich am liebsten flüchten, aber da der Gastgeber ihn geschützt habe, empfinde er es als seine Pflicht, ihn nicht zu belügen. Und er erzählte dem immer stiller werdenden Gastgeber den genauen Hergang der Auseinandersetzung, an deren Ende sein Vater hatte sterben müssen. Diese Details konnte nur einer wissen, der dabei gewesen war. Der Gastgeber wurde aschfahl. Lange schwieg er. Der Gast war sicher, dass nun sein eigener Tod bevor stand, doch der Gastgeber schaute den Mann nur an.
„Du wirst beim himmlischen Richter dein Urteil bekommen“, sagte er schließlich. „Ich kann dich nicht bestrafen, weil ich dir Gastfreundschaft und Sicherheit versprochen habe, doch ich möchte, dass du mein Haus verlässt. Ich habe Angst um dich, weil ich nicht sicher bin, ob ich mich beherrschen kann.“
Er bot dem Gast eine große Menge Geld, damit er sich unterwegs versorgen könne, doch der lehnte ab. Es gelang ihm bald, seine Freunde in der anderen Stadt zu erreichen, und er hielt sich dort versteckt, bis der Kalif ihn begnadigte.
(arabische Legende, nach Rafik Schami)